Forschungsmuseum Schöningen: von 300.000 Jahren alten Funden lernen

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Redaktioneller Artikel
Beate Ziehres
21. August 2022

Hinter den Kulissen der Grabung und der Ausstellung

Das weithin sichtbare futuristische Gebäude des Forschungsmuseums Schöningen  markiert einen weltweit einzigartigen Ort: die archäologische Ausgrabung am Rande des Braunkohletagebaus. Der Fundort der Schöninger Speere gewährt Wissenschaftlern seit mehr als 30 Jahren aufschlussreiche Einblicke in die Vergangenheit.



Die Schöninger Speere führten dazu, dass die Geschichte der Menschheit neu geschrieben werden musste. Doch das war nur die erste von vielen Überraschungen, die Wissenschaftler unterschiedlichster Fachgebiete bei der Erforschung der Funde aus dem Tagebau erlebten und immer noch erleben.
 
An der Ausgrabungsstätte bin ich mit Grabungsleiter Jordi Serangeli und Jana Hugler, Leiterin Ausstellung und Bildung im Forschungsmuseum Schöningen verabredet. Ich möchte wissen, was die Archäologen in Schöningen in diesen Tagen bewegt und wie ihre Funde Eingang finden in die Ausstellung des Forschungsmuseums.

 

Unter dem Dach des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege

Das Forschungsmuseum Schöningen ist im Juli 2019 aus dem Paläon hervorgegangen. Als Forschungs- und Erlebniszentrum wurde die Einrichtung 2013 eröffnet. Die Idee war, die Schöninger Speere an ihrem Originalfundort in würdigem Rahmen zu präsentieren.
 
Im Forschungsmuseum geht es indes nicht alleine darum, Sensationsfunde zu zeigen. Anhand der Funde sollen die Besucher in die Lage versetzt werden, Zusammenhänge zu erkennen und für die Zukunft zu lernen. Immer neue wissenschaftliche Methoden erlauben den Wissenschaftlern, Rückschlüsse aus archäologischen Funden zu ziehen, die auch für das Fortbestehen der Menschheit von Bedeutung sein könnten.    
 
So hat man beispielsweise festgestellt, dass mehrere rasante Klimawechsel eine wichtige Rolle beim Aussterben des Neandertalers gespielt haben. „Es hat auch früher schon und ohne Zutun des Menschen sehr schnelle Temperaturanstiege und ebenso schnelle Temperaturstürze gegeben. Die Wissenschaft arbeitet hier im Spannungsfeld von natürlichem und menschengemachtem Klimawandel. Der menschliche Einfluss ist jedoch messbar, und das gilt es herauszuarbeiten“, sagt Jordi Serangeli. „Niemand kann wirklich sagen, was in 50 Jahren sein wird. Vielleicht kommt doch eine neue Eiszeit. Die Wissenschaft liefert eindeutige Daten, wie hier in Schöningen. Wir müssen aber noch lernen, die richtigen Schlüsse zu ziehen.“

Der Steinzeitmensch als organisierter Großwildjäger

Die Funde der vergangenen Jahrzehnte in Schöningen zeigen, wie der Mikrokosmos der frühen Bewohner Niedersachsens vor 300.000 Jahren ausgesehen hat. Riesige Elefanten streiften durch die Wälder, Herden von Auerochsen, Wildpferde – und mittendrin der Mensch. Steinzeitliche Sammler und Jägerinnen, die organisiert und taktisch klug auf Nahrungssuche gingen. Bewaffnet mit Wurfstöcken, Wurfspeeren, Stoßlanzen und Schneidewerkzeugen aus Feuerstein waren sie in der Lage, große Tiere zu erlegen und zu zerlegen.

Szenische Bilder entführen mich in diese Welt, sowohl im Museum als auch auf dem Grabungsgelände. „Elefanten, Nashörner und Bären würden hier heute noch leben, wenn der Mensch ihnen einen Lebensraum gelassen hätte“, sagt Serangeli und betont, dass das Aussterben von Tierarten einhergehe mit dem Verschwinden der Wildnis.

Klimawandel als ein Thema der Dauerausstellung

Im Forschungsmuseum möchte das Team den modernen Menschen mit seinem wirtschaftlich orientierten Denken und Handeln als Beschleuniger des Klimawandels darstellen. „Wir betrachten es als unseren Bildungsauftrag, klar aufzuzeigen, dass das, was der Mensch tut, weitreichende Konsequenzen hat“, sagt Jana Hugler.
 
Dies funktioniert zum Beispiel mithilfe der vor einigen Jahren in Schöningen entdeckten Säbelzahnkatze. „Man war davon ausgegangen, dass die Säbelzahnkatze zu dieser Zeit zumindest in Europa längst ausgestorben war“, sagt Grabungsleiter Jordi Serangeli. Nun wissen die Forscher, dass der Mensch in der Altsteinzeit jederzeit mit dem Auftauchen dieses gefährlichen Jägers rechnen musste. „Im Museum versuchen wir zu vermitteln, dass Steinzeitmenschen jeden Tag mit der Gefahr lebten, von einem Raubtier angegriffen zu werden. Heute weiß in Deutschland kaum jemand, wie man sich bei einer Begegnung mit Wildtieren verhält“, so Jana Hugler.

Archäologische Funde in großer Zahl

Die Vormittagssonne brennt heiß auf das Grabungsgelände und ich lenke die Unterhaltung zum Thema meines Besuchs: Wie oft finden die Grabungsmitarbeiter etwas und was findet man hier überhaupt? „Eigentlich finden wir täglich etwas. Die Funde sind aber nur für Wissenschaftler und im Kontext interessant“, sagt Jordi Serangeli und verweist auf mikroskopisch kleine Tiere, Tierteile und Pflanzen, die in Sedimentproben gefunden werden.
 
Anhand von Kieselalgen, Muschelkrebsen, den Klappen (Beißwerkzeugen) von Zuckmücken-Larven, Pollen und Mäusezähnen sei es Fachleuten möglich, das damalige Klima zu rekonstruieren. „Spezialisten können jetzt sogar durch Isotopen-Analyse feststellen, was die Tiere vor 300.000 Jahren gefressen haben“, berichtet Serangeli.
 
Wie um Serangelis Aussage zu untermauern, präsentiert eine Praktikantin, die an der Fundstelle der Säbelzahnkatze vorsichtig dünne Sandschichten abträgt, ein soeben gefundenes Steinartefakt. Das etwa einen Quadratzentimeter kleine Teil wurde offensichtlich von Menschenhand bearbeitet.

Auf der Suche nach einem Waldelefantenbein

Die Anwesenheit des altsteinzeitlichen Menschen ist es, die den Grabungsort für Archäologen so spannend macht. Nicht nur einmal, sondern mindestens 20 Mal konnten die Wissenschaftler auf dem Ausgrabungsgelände Spuren des Menschen nachweisen. Diese einzelnen Begehungen lagen zum Teil hunderte und sogar Tausende von Jahren auseinander.
 
Auf Verlandungsfolge 4 gräbt derweil Wolfgang Berkemer mit dem Spaten Sediment ab. Immer durchforstet der Grabungsmitarbeiter mit erfahrenem Blick den soeben gelösten Sand, bevor er ihn auf die Schubkarre lädt. Er arbeitet neben der Fundstelle eines fast kompletten Waldelefantenskeletts. Einzig ein Bein fehlt und nach diesem gewaltigen Knochen fahnden die Archäologen jetzt.
 
Ob mit dem Fund des Beins eine Sensation komplett würde – man weiß es jetzt noch nicht. Denn die erste Erforschung der 300.000 Jahre alten Elefantenknochen erfolgt parallel zur Restaurierung. Dies geschieht in einem Labor des Forschungsmuseums. Hier stapeln sich Elefanten-, Auerochsen- und Nashornknochen. Sie werden gereinigt, getrocknet und konserviert.

Forschungsarbeit auch auf dem Gebiet der Restaurierung

Auch das Restauratoren-Team des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege (NLD) leistet Pionierarbeit, auf die ähnliche Einrichtungen weltweit bei Bedarf gerne zurückgreifen. Um die sichere Lagerung und Erhaltung von Knochen zu gewährleisten, haben die Mitarbeiter des Labors eine gut schützende, aber reversible Beschichtung entwickelt. Das heißt, bei wissenschaftlichem Bedarf kann die Schutzschicht rückstandslos entfernt werden. Denn nicht alle Funde finden Eingang in die Ausstellung. Die meisten werden archiviert und stehen dann zu Forschungszwecken zur Verfügung.
 
„Wir müssen immer sehen, ob es für die Besucher einen Mehrwert bringt, einen Fund in die Ausstellung zu integrieren“, sagt Jana Hugler. Denn eigentlich sei die Ausstellung komplett. Trotzdem ist es ihr ein Anliegen, Exponate und Beschreibungen stets auf dem neuesten Erkenntnisstand zu halten.
 
Ich verlasse das Forschungsmuseum an diesem Tag ohne bahnbrechende Sensationen im Gepäck, habe aber viel gelernt. Passend dazu fügt sich das Gebäude mit der reflektierenden Oberfläche in der Mittagssonne so gekonnt in die Umgebung  ein, dass es beinahe unsichtbar geworden ist.


Öffnungszeiten
März bis Oktober: Dienstag bis Sonntag 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr
November bis Februar: Mittwoch bis Sonntag 11.00 Uhr bis 17.00 Uhr
 
Führungen zur archäologischen Ausgrabung finden von April bis Oktober an den Wochenenden immer um 13.30 Uhr statt.  

Aktuelle Sonderausstellung: 2 Millionen Jahre Migration

  • Laufzeit: 2. April bis zum 31. Oktober 2022
  • Thema: Mobilität in der frühen menschlichen Entwicklungsgeschichte
  • Die Ausstellung greift den aktuellen Vielfaltsgedanken des Museums auf und zeigt, dass Mobilität und Migration keine Erscheinungen des 21. Jahrhunderts sind, sondern essenzielle Bestandteile des Menschseins.
  • Mehr zur Sonderausstellung erfahren

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