Kunstverein Braunschweig: Internationale Ausstellungen trotz Corona

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Redaktioneller Artikel
Beate Ziehres
13. Dezember 2020

Irritation stellt sich ein, als ich den Motor meines Autos abstelle. Zu mir dringt ein Geräusch, das ich nicht zuordnen kann. Als ich die Tür öffne, stelle ich fest, dass das ein dumpfes Wummern auf dem Hof der Villa Salve Hospes ist. Dr. Jule Hillgärtner, Direktorin des Kunstvereins Braunschweig, wird mir später erklären, dass ich das durch Lautsprecher verstärkte Rattern einer Nähmaschine höre. Und dass die Soundarbeit eine Kunstinstallation auf dem Hof ergänzt.
© Beate Ziehres für zeitORTE.de

Die Installation „Fighting for the title not to be pending“ ist für das ungeübte Auge auf den ersten Blick nicht sichtbar. Es handelt sich um winzige, bunte Glasperlen, die in den Fugen zwischen den Pflastersteinen liegen.

Die traditionellen Glasperlen sind Sinnbild für die indigenen Völker Nordamerikas. Jeneen Frei Njootli, die das Werk geschaffen hat, stammt aus Kanada und ist Angehörige der Vuntut Gwitchin Nation. „Jeneen ist vor zwei Wochen mit dem letzten Flieger nach Yukon ins nördliche Kanada gereist, um in ihrer Community zu leben“, erzählt Jule Hillgärtner.



Glasperlenspiele im Hof der Villa

Weil die Künstlerin zur Ausstellung nicht in Braunschweig sein kann, hat sie ihr Körpergewicht mit Glasperlen aufgewogen und diese auf dem Hof und im Foyer ausschütten lassen. „Selbst wenn die Glasperlen auf dem Hof nicht mehr sichtbar sind, sind sie immer noch irgendwo hier vor Ort. Sie verschwinden nicht“, erklärt Hillgärtner.

Ich stehe jedenfalls schon mal im Hof mit dem eindrucksvollen Tor, das einladend offensteht. Und ich bin sehr gespannt, was mich hinter der mächtigen Eingangstür der Villa Salve Hospes erwartet. Viele Menschen hätten Schwellenängste, sagt Hillgärtner. Sie denkt, dass das Tor und das Haus mit dem lateinischen Schriftzug über dem Portal Ursache hierfür sind. „Zu allem Überfluss beschäftigen wir uns auch noch mit zeitgenössischer Kunst“, schmunzelt die Direktorin.

Dass dies selbst während des Lockdowns nicht hinter verschlossenen Türen geschieht – davon kann ich mich bei meinem Besuch überzeugen. „Wir legen sehr viel Wert auf Vermittlungsarbeit“, sagt sie und fängt auf charmante Weise gleich damit an.

Tanzende Jalousien als Kunst

Wir stehen im Erdgeschoss der Villa. Im Eckzimmer wundere ich mich etwas über Jalousien unterschiedlicher Größe und Farbtöne, die teilweise vor und neben den Fenstern hängen. Wie zufällig gehen die Jalousien – gesteuert von einem Motor und begleitet von einem lauten Summen – hin und wieder auf und zu. Mal geben sie zwischen den Lamellen den Blick in den Park frei, mal versperren sie die Sicht.

Die Jalousien seien ein Werk von Nadia Belerique, erklärt Jule Hillgärtner. „Nadia denkt fotografisch, sie arbeitet mit Licht. Die Jalousien machen einen Tanz“, fährt sie fort. Dass die Jalousien wie zusammengewürfelt und teilweise etwas vergilbt aussehen, sei typisch bei zeitgenössischer Kunst. „Man nutzt keine edlen Materialien, manches ist offensichtlich unpassend. Gerade zeitgenössische Kunst stellt immer wieder die Frage, was schön ist. Oder stellt in Frage, dass Kunst schön sein muss“, so Hillgärtner.

Plastikfässer als Kunstobjekte

Die Frage nach der Ästhetik stellt sich mir auch im Spiegelsaal der Villa. Und das liegt nicht am atemberaubenden Saal. Sondern an „Holdings“ oder „Haltungen“, einem weiteren Werk von Nadia Belerique. Es besteht aus weißen Plastikfässern, die zum Transport von Lebensmitteln oder auch bei Umzügen oder beim Immigrieren genutzt werden. Die Fässer weisen deutliche Gebrauchsspuren auf, in manche kann ich hineinschauen.

„Wir haben hier in Braunschweig auf Nadias Wunsch hin Regenwasser gesammelt und in die Fässer gefüllt. Das Einsammeln von Spuren ist ihr ein Anliegen. Das Material und teilweise der Schmutz können erzählen, wo die Fässer schon waren“, berichtet Jule Hillgärtner.

An dieser Stelle wird die ganze Problematik der aktuellen Ausstellungen im Kunstverein Braunschweig deutlich. Alle drei Künstlerinnen, die in der Villa ausstellen, leben in Kanada. Zum Aufbau der Präsentation konnten sie wegen Corona nicht anreisen. Das Team des Kunstvereins musste den Aufbau mithilfe von Anleitungen, Fotos und Videoschalten übernehmen.

„Eigentlich ist es charakteristisch für den Kunstverein, dass hier Arbeiten produziert werden. Dies ist ein Ort der Produktion, der Präsentation und der Vermittlung von Kunst“, verdeutlicht Jule Hillgärtner. Oft gehen die Künstlerinnen und Künstler in ihren Arbeiten auf den Ort der Ausstellung ein, beispielsweise auf die besondere Architektur der Villa.

Raum zum Entspannen in der Villa Salve Hospes

Nun steigen wir die breite Treppe empor ins Obergeschoss der Villa Salve Hospes. Hier oben herrscht eine spürbar andere Atmosphäre als im repräsentativen Erdgeschoss. Einst waren im Obergeschoss gemütliche Schlafräume untergebracht. Denn die Villa wurde vom Architekten Peter Joseph Krahe als residenzartiges Wohnhaus für einen Braunschweiger Hopfenhändler konzipiert, dessen Stieftochter Helene Hollandt mit ihrer Familie hier lebte. Seit 1946 ist das Gebäude das Domizil des Kunstvereins.

Doch der wohnliche Charme der Räume ist immer noch spürbar. So liegt der letzte Raum der Ausstellung in einem warmen Licht. Er ist der Künstlerin Kathy Slade gewidmet. Die Kanadierin versteht sich als Autorin, Lehrerin und Herausgeberin von Büchern. Zwischen drei Jacquard-Wandteppichen laden Kuscheldecken, Bücher von Slade und ihre Schallplatten zum Entspannen ein.

Hier würde ich gerne etwas länger verweilen, aber unser Rundgang ist noch nicht zu Ende. Zum einen wurde kurz vor meinem Besuch die Jahresgabenausstellung fertig. Sie wurde inzwischen – wie alle anderen laufenden Ausstellungen im Kunstverein Braunschweig – in aller Stille eröffnet.

Ausstellung „The Cascades“ in der Remise

Zum anderen steht noch ein Gang in die Remise an. Hier findet parallel eine weitere Ausstellung statt. „The Cascades“ ist die erste institutionelle Einzelausstellung der Künstlerin Gili Tal in Deutschland. The Cascades besteht aus einer Serie digitaler Drucke auf Leinwand. Zu sehen ist eine Art digitaler Regen in vier Variationen und auf vier verschiedenen Blautönen. „Das Material Leinwand steht in scharfem Widerspruch zum Druck. Gili Tal zeigt Leinwände als kommerzialisierte Massenware“, erklärt Jule Hillgärtner.

An dieser Stelle kommt die Direktorin des Kunstvereins Braunschweig zurück zur Irritation. „Momente der Irritation sind oft der Schlüssel, um etwas zu verstehen“, sagt sie. Und ja, Jule Hillgärtner ist es gelungen, mir in einer Stunde die Besonderheiten zeitgenössischer Kunst näherzubringen. In der Rückschau kann ich übrigens sagen, dass mir die Plastikfässer mit dem Titel „Holdings“ und die darin gesammelten Spuren besonders nachhaltig in Erinnerung geblieben sind.

Kunstverein Braunschweig geht online

Während des Lockdowns können die Ausstellungen des Kunstvereins auf der Webseite https://kunstvereinbraunschweig.de angeschaut werden.

Außerdem verschickt der Kunstverein derzeit Newsletter im wöchentlichen anstatt im zweiwöchigen Abstand. Die Verantwortlichen haben unter anderem Videointerviews geführt, um Kunstfreundinnen und -freunden die ausstellenden Künstlerinnen aus Kanada vorzustellen.

Der Kunstverein Braunschweig ist einer von mehr als 100 zeitORTEn in der Region Braunschweig-Wolfsburg. Das Team freut sich, wenn es nach dem Lockdown wieder Gäste in der Villa Slaves Hospes begrüßen kann und die Ausstellungen wieder besucht werden dürfen. Updates hierzu gibt es auf den Seiten des Kunstvereins und natürlich auf zeitORTE.de

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